Agile Transformation (Teil 1): Kompliziert vs Komplex
Ausblick
Später, im 2. Teil beschäftigen wir uns mit der eigentlichen Agilen Transformation eines Unternehmens, vorerst möchte ich aber die Grundlage und Terminologie dafür schaffen. Der Begriff Komplexität ist dabei zentral.
Überlegen Sie kurz was der Unterschied zwischen kompliziert und komplex ist. Wann würden Sie sagen ist etwas kompliziert und wann eher komplex?
“Narren ignorieren Komplexität. Pragmatiker leiden darunter. Genies lernen damit umzugehen.”
inspiriert von einem Zitat von Alan Perlis
Bevor wir uns der Definition von Komplexität widmen, ein Beispiel.
Die kürzeste Strecke
Stellen Sie sich vor Sie sind eingeladen an einem Wettbewerb teilzunehmen bei dem es darum geht die kürzeste Strecke (in Metern) vorschriftsgemäss mit einem Auto von A nach B zurückzulegen. Sagen wir es geht von Winterthur (nordöstlich von Zürich) nach Einsiedeln (südlich vom Zürichsee).
Wie bereiten Sie sich vor, wenn Sie diesen Wettbewerb unbedingt gewinnen wollen?
Vermutlich schauen Sie zuerst einmal bei Google Maps vorbei. Genau wie beim Arztbesuch kann eine zweite - da hier in jeder Hinsicht praktisch kostenlose - und eine dritte und vierte Meinung nicht viel schaden. Entsprechend werden Bing Maps, HERE WeGo und was es sonst noch an Kartenmaterial gibt, herbeigezogen. Es würde auch Sinn machen die so gefundenen Strecken im Vorfeld mal abzufahren um zu messen wie lange sie denn tatsächlich sind. Vielleicht findet man ja auch eine Abkürzung von der die digitalen Helfer nichts wussten.
Es gewinnt der, der den besten Plan ausarbeitet und damit die kürzeste Strecke findet. Tatsächlich fahren müssen die Teilnehmer die Strecke am Tag X des Wettbewerbs nicht. Ja, eigentlich braucht man nicht einmal ein Auto um den Wettbewerb gewinnen zu können.
Die schnellste Strecke
Machen wir eine kleine Änderung am Wettbewerb. Diesmal geht es darum die schnellste Strecke zu finden.
Wie bereiten Sie sich jetzt vor? Ähnlich?
Ja und nein, sie nehmen erstmal wieder die Karten von Google, Apple und Co. zur Hilfe - klar, weil es so einfach ist. Mit diesen lassen sich nämlich auch die schnellsten Routen berechnen. Theoretisch auf jeden Fall, denn siehe da, je nach Tageszeit gibt Ihnen zum Beispiel Google Maps verschiedene Routen als die schnellsten an. Wenn Sie sich jetzt auf eine dieser Routen festlegen - wie wir es beim ersten Wettbewerb gemacht haben und damit gut gefahren sind, dann haben Sie praktisch schon verloren oder gewinnen zumindest nur mit Glück und darauf wollen wir uns ja nicht unbedingt verlassen.
Was machen Sie also um Ihre Gewinnchancen zu maximieren? Sie kaufen sich ein Tom Tom und ein Garmin Navigationsgerät, Sie machen sich mit der “Traffic” Funktion von Google Maps vertraut. Sie untersuchen welcher Radiosender die besten Verkehrsmeldungen bringt. Sie bitten evtl. einen Freund Sie am Tag des Rennens zu begleiten um Ihnen ständig aktualisierte Informationen zum Verkehr zu geben. Vielleicht hört er mit Kopfhörern einen zweiten Radiokanal ab. Vielleicht platzieren Sie auch weitere Freunde an neuralgischen Verkehrspunkten und bleiben mit diesen während des Rennens ständig in Kontakt um möglichst immer aktuelle Verkehrsinformationen zu haben.
Im Gegensatz zum ersten Wettbewerb können wir nicht am Tag der Durchführung entscheiden wer den besten Plan ausgearbeitet hat und ihn zum Gewinner küren. Wir müssen den Wettkampf tatsächlich durchführen. Die besten Chancen hat der, der sich unterwegs auf dem Laufenden hält und das System in dem er sich bewegt permanent inspiziert und auf Änderungen (Eisglätte, erhöhtes Verkehrsaufkommen, Unfall, etc.) so schnell wie möglich reagiert.Genau aus dem Grund gibt es die Verkehrsdurchsagen im Radio überhaupt. Deshalb sind wir auch dem vor uns fahrenden Freund Dankbar der uns anruft und vor einem Stau auf der Autobahn warnt in dem er bereist steckt, den wir aber vielleicht noch umfahren können.
Wir haben es hier mit zwei – rein oberflächlich betrachtet – sehr ähnlichen Problemen zu tun. Der Lösungsansatz um die kürzeste bzw. schnellste Strecke von A nach B zu finden ist aber grundverschieden.
Komplex Definiert
Gemäss Google bedeutet komplex “consisting of many different and connected parts” oder zu deutsch “bestehend aus vielen verknüpften Teilen”. Wobei das “viele” nicht überinterpretiert werden sollte. Schon Strukturen mit relativ wenigen aber dafür hochgradig verknüpften Teilen können komplex sein.
Das erste System bzw. das Problem der kürzesten Strecke ist kompliziert. Komplizierte Systeme sind oft durch Menschen erschaffen. Eine Uhr, ein Auto, Apollo 13, alles kompliziert.
Das zweite System (das Rennen) ist ein komplexes. Komplex weil viele Akteure in diesem System unvorhersehbar auf einander Einfluss nehmen (wenn einer einen Unfall baut oder auch nur bremst hat das möglicherweise einen signifikanten Einfluss auf alle die hinter ihm fahrenden). Komplexe Systeme sind oft Naturnah oder zumindest laufend durch Lebewesen beeinflusst. Ein Ökosystem, das Wetter, Verkehr, alles komplex.
Komplizierte Probleme löst man oft am effizientesten indem man sie analysiert bis man das zugrundeliegende System im Detail verstanden hat, die Lösung entwirft, die Umsetzung plant und Ressource entsprechend alloziert.
Bei komplexen Problemen geht das leider nicht. Egal wie viele Informationen wir am Anfang des Rennens über den Strassenzustand, alle anderen Autofahrer und deren Ziele, das Wetter und sonst was hätten. Unabhängig davon wie viele Experten und Rechenleistung uns zur Verfügung stehen würde - wir können den garantiert schnellsten Weg nicht im Voraus berechnen. Man kann Annahmen machen und Optionen erarbeiten. Was es aber definitiv braucht um auch nur den Hauch einer Chance zu haben dieses Rennen zu gewinnen ist ein konstantes inspizieren und adaptieren. Die Vorbereitungen konzentrieren sich daher auch darauf dieses so einfach, effizient und günstig wie möglich zu gestalten indem man möglichst hohe Transparenz schafft.
Ja und?
Wieso ist es wichtig zwischen kompliziert und komplex unterscheiden zu können?
Weil wir uns laufend mit verschiedenen Systemen konfrontiert sehen. Das falsche Vorgehen, die falsche Technik ist bestenfalls Verschwendung, schlimmstenfalls kann sie zum kompletten Scheitern des Vorhabens führen. Vor allem ein komplexes System wie ein kompliziertes zu behandeln kann schwerwiegende Konsequenzen haben.
“Stop trying to change reality by attempting to eliminate complexity.” David Whyte
Wieso ist diese Unterscheidung gerade heute so wichtig? Weil die Welt bzw. unser Umfeld immer vernetzter und damit komplexer werden. Es mutet paradox an, dass sowohl das uns zur Verfügung stehende Wissen, aber auch die Menge an Information und die Rechenpower exponentiell wächst, es aber gleichzeitig immer schwieriger zu sein scheint die Zukunft vorherzusagen. Wenn Analysten davon sprechen, dass die FED dieses Jahr wahrscheinlich drei Zinserhöhungen durchführen wird ist das lachhaft – es weiss niemand wie die Welt Ultimo 2017 aussehen wird. Alles scheint möglich, nichts unmöglich – mehr denn je.
Weiterführende Lektüre
Wer nach dieser Lektüre tiefer in das Thema Komplexität eintauchen und andere Sichten kennen lernen möchte, kann sich zum Beispiel mit David Snowden und seinem Cynefin Framework (englisch) auseinandersetzen oder eines der Bücher von Niels Pfläging studieren (ich kann vor allem “Organisation für Komplexität” und “Komplexithoden” empfehlen).